Neuer Blickwinkel auf das Mitarbeitergespräch
Heute muss ich etwas früher nach Hause. Das halbjährliche Ehepartnergespräch steht an. Der Termin ist von meiner Frau punktgenau auf 17.00 Uhr festgesetzt. Unpünktlichkeit macht einen schlechten Eindruck und verschlimmert die ohnehin ungünstige Ausgangslage.
Meine Frau hat sich gut auf das Gespräch vorbereitet. Ein geschäftstüchtiger Psychologe hat ihr Beurteilungsbögen für allgemeine Haushaltsarbeiten, Instandhaltung des Grundstücks, Sauberkeit an Herd und Spüle sowie Fliesenglanz nach Badbenutzung angefertigt.
Selbstverständlich darf ich an meinen Beurteilungsbögen ( 1 : 1 abgeleitet aus den Bögen des Mitarbeitergesprächs) mitwirken. Stimme ich mit Ihrer Meinung überein, bleibt die Gesprächsatmosphäre gut. Doch die Beurteilung wird katastrophal ausfallen, bin ich gegensätzlicher Meinung: Es kommt zur Kontoverse und die Ehe wird auf eine harte Belastungsprobe gestellt.
Ganz klar: Bei den Beurteilungen stehe ich immer auf der Verliererseite – ganz gleich wie ich es anstelle.
Nachdem ich diese Hürde schon nicht genommen habe, taucht gleich das nächste Hindernis auf:
Sorgfältig geführte Rankings mit Kompetenzprofilen und bunten Bewertungsskalen. Hier hat meine Frau über das letzte Halbjahr ganze Arbeit geleistet: Schließlich hat sie dafür extra ein teures 3-Tage-Seminar absolviert – mit Zertifikat versteht sich.
Mein Ranking, Scoring und meine Skalen und Profile sind bereits von meiner Frau fixiert und beim Familiennotar als Kopie hinterlegt. Hier kann ich nicht mehr mitwirken, sondern nur noch das Urteil in Empfang nehmen:
Mein Ranking gegenüber vergleichbaren Ehepartnern als Einkaufseskorte an der Seite meiner Frau liegt weit unter dem Durchschnitt.
Ebenso ist die liebevolle Begleitung der Fahrkünste meiner Ehefrau in meiner Eigenschaft als Beifahrer mit 0 Punkten abgestraft worden.
Auf Einblick in die rot gekennzeichnete Bewertungsskala, die über das letzte Halbjahr auf dem Nachttisch lag, habe ich dann besser verzichtet. Es bleibt die Hoffnung, dass die Unterlagen beim Notar gut gesiegelt und unberührt verwahrt werden.
Nachdem ich beim subjektiven Bewerten durch die eigene Gattin weder punkten, noch mildernd eingreifen konnte, kann es wohl kaum noch schlimmer kommen. Wenn man am Boden liegt ist eigentlich Schluss und der Andere sollte aufhören.
Mitarbeitergespräch – qualvolle Selbsteinschätzung
Doch weit gefehlt: Als nächstes ist SadoMaso unter dem Begriff „Selbstanalyse“ eingeplant. Auch hier steht der Verlierer schon von vornherein fest.
Ich darf jetzt sagen, wie ich mich selbst einschätze und meine Frau darf sagen, wie sie mich einschätzt. Das macht natürlich Spaß – allerdings nur für den, der den Anderen einschätzen darf und dessen Meinung am Schluss zählt.
Bei diesem Spiel habe ich die Auswahl zwischen zwei falschen Antworten: Entweder ich schätze mich zu hoch ein oder meine eigene Einschätzung wird als zu gering erachtet. In beiden Fällen darf meine Frau lustvoll triumphieren und gnadenlos auf meiner Psyche herumtrampeln. Das steigert die gute Laune und das Selbstwertgefühl – bei meiner Ehefrau.
Nachdem ich nun lange genug wie ein Tanzbär am Ring durch das Ehepartnergespräch geschleift wurde, wäre jetzt Mitleid und Zuspruch angebracht. Doch Mitleid ist beim Ehepartnergespräch nicht eingeplant.
Schon wird das nächste Folterinstrument herausgeholt:
Die Zielvereinbarung – Daumenschraube des so genannten Mitarbeitergesprächs
Wer jetzt auf das im Begriff Zielvereinbarung enthaltene Wort „Vereinbarung“ im Wortsinn vertraut, wird eine böse Überraschung erleben.
Statt gemeinsame, gleichberechtigte und freiwillige Übereinkunft, erfährt das Wort Vereinbarung im Sinne von Zielvereinbarung eine völlig neue Interpretation: Meine Frau legt mir meine Ziele fest und ich darf zustimmen. Stimme ich nicht zu, wartet der Scheidungsanwalt.
Da fällt die Entscheidung leicht: Ich stimme selbstverständlich zu.
Zum besseren Verständnis für alle Beteiligten und um der Wahrheitsliebe willen, sollte die Zielvereinbarung in Zukunft besser in „Zielerzwingung“ umbenannt werden.
Ermattet wische ich mir die Schweißperlen von der Stirn – das wäre geschafft. Das Ehepartnergespräch ist überstanden und im nächsten halben Jahr werde ich nur noch sporadisch von meiner Frau gequält werden.
Auch das Ergebnis kann sich sehen lassen: Ich darf das nächste Halbjahr weiter zu Hause wohnen bleiben und muss vielleicht hier und da etwas zuvorkommender sein sowie das eine oder andere Geschirrstück mehr abspülen.
Dass ich von meiner Frau nicht gelobt worden bin, ist bei meinem schlechten Ranking und den negativen Beurteilungsbögen völlig logisch. Auch wäre die Gefahr dabei immer gegenwärtig, dass ich übermütig geworden wäre oder gar so etwas wie Motivationen verspürt hätte.
Wenn ich darüber nachdenke, sind wir eigentlich auch ohne Ehepartnergespräch die letzten zwanzig Jahre recht ordentlich miteinander ausgekommen: Weil wir uns jeden Tag gesehen haben, haben wir auch immer gleich alles besprochen.
Das war lebens- und zeitnah zugleich.
Genug sinniert und auf den nächsten Tag konzentriert: Schon morgen um Punkt 19.00 Uhr bin ich zum jährlichen Freundesgespräch vorgeladen. Mein Freund Leo wird mich als Freund neu bewerten, mein Punktekonto kritisch überprüfen und zum Schluss sämtliche Unterlagen einem befreundeten Sozialpädagogen übergeben. Leo freut sich schon.
Wieso klingelt es jetzt? Der Wecker!
Gott sei Dank, alles nur ein Albtraum!
Leider nicht ganz – das Mitarbeitergespräch ist in vielen Unternehmen noch existent und erfreut sich einer zunehmenden Beliebtheit.
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Erlebnis einer kaufmännischen Angestellten >> Mitarbeitergespräch
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